Editorial

  • Markus Hänsel
  • Dorothee Wienand-Kranz
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

als wir das Schwerpunktthema Spiritualität und Wirtschaft geplant haben, waren wir in einer ganz anderen Situation. Es waren die Gedanken und Fragen: Wie gehören diese Bereiche zusammen? Die Wirtschaft ist ein wichtiger Bereich in unserem Leben. Passt dazu Spiritualität? Andererseits ist in der Spiritualität alles

enthalten, also auch die Wirtschaft. Dann gibt es die Sehnsuchtsvorstellung von Spiritualität: Wenn alle Führungskräfte der kleinen und großen Konzerne meditieren, sich auf Mitgefühl und Empathie mit ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen besinnen, dann geht es in der Wirtschaft nur menschenfreundlich, also eben nicht ausbeuterisch zu, die Arbeitsbedingungen sind menschen-, familienfreundlich. Unser Wirtschaftssystem ist auf Wettbewerb und Konkurrenz ausgerichtet. Passt das zusammen? Herrschen in der sozialen Marktwirtschaft nicht andere Gesetze als ‚Menschenfreundlichkeit‘?

In dem Film „Der marktgerechte Mensch“ (2020) von Leslie Franke und Herdolor Lorenz wird einerseits aufgezeigt, wie sich die Arbeitsbedingungen in den letzten 20 Jahren für etliche Menschen zunehmend verschlechtert haben durch Teilzeitjobs ohne Sozialversicherung oder durch Arbeit auf Abruf, und zwar quer durch unsere Arbeitsbereiche. Auf der anderen Seite stellen sie Betriebe vor, die nach dem Prinzip des Gemeinwohls wirtschaften. Ist es also doch möglich, menschenfreundlicher zu wirtschaften?

Auf dem Change-Kongress in Berlin im November 2019 antwortete der Gyalwang Drukpa, Gründer des internationalen humanitären Netzwerkes „Live To Love“ und Oberhaupt der Drukpa-Linie des Buddhismus im Himalaya auf die Frage, was die Rolle der Führerschaft sei: „Als CEO sind Sie ein Diener für 2000 Mitarbeiter und nicht der CEO, der sagt, ich kann machen, was ich will… Die Motivation der CEOs muss sein – neben dem Geldverdienen, was natürlich gut ist –: „Was ist gut für die anderen?“ Er ist überzeugt davon, dass eine menschenfreundliche Wirtschaft über die Führungskräfte läuft.

In dieser Ausgabe sind nun Menschen zu Wort gekommen, die das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln und Erfahrungshintergründen angehen.

Die grundsätzliche Funktion des Geldes als Denk- und Bewusstseinsform unserer Gesellschaft reflektiert Karl-Heinz Brodbeck in seinem Artikel „Geld, Sprache und Bewusstsein“. Dabei stellt er insbesondere zwei historische Entwicklungen gegenüber, die in ihrer Auswirkung eine sehr unterschiedliche Auffassung bezüglich der Bedeutung des Geldes erkennen lassen. Während in der abendländischen Tradition die Einführung von Geld auf dem rationalen Paradigma beruht, primär dem Mess- und Zählbaren einen realen Wert beizumessen, richteten sich östliche Traditionen, z.B. im Buddhismus, vielmehr danach, das Bewusstsein in den Mittelpunkt zu stellen und den scheinbar gegebenen Wert als Illusion zu entlarven. Auf diesem Missverständnis lassen sich viele unserer aktuellen Krisen in der Wirtschaft grundsätzlich neu verstehen und beschreiben.

In ihrem Artikel „Spirit im Business“ stellt Nadja Rossmann aufgrund der Ergebnisse einer repräsentativen Studie der Identity Foundation die Frage, welche Bedeutung der Trend zu Achtsamkeit in unserer modernen Gesellschaft und der Wirtschaft hat. Es wird dabei beschrieben, wie die vielfältigen Zugangs- und Verständnisweisen von Achtsamkeit ein Teil der spirituellen Sinnsuche des modernen Menschen zwischen Säkularismus und Religion sind. Dabei zeigen sich besonders im Kontext der Wirtschaft etliche Spannungsfelder, wo Achtsamkeitskurse sowohl als Antidot zu den aktuellen Entwicklungen der Beschleunigung und Technisierung verstanden werden können, aber ebenso kritisch zu reflektieren sind, wenn sie als Kompensation und Reparaturverhalten dienen.

Hans-Jürgen Lenz legt in seinem Artikel „Wirtschaft und Spiritualität – Komplexe Führung in einer komplexen Welt“ die Potentiale dar, wie sich die aktuelle Form der Wirtschaft ihrer zunehmenden Entfremdung von biologischen Wurzeln und humanen Werten wieder in eine sinnstiftende und Verbindung schaffende Form wandeln kann. Als Initiator und Veranstalter des Kongresses „Wirtschaft und Spiritualität“, der im Herbst 2019 in Freiburg stattfand, sieht er dabei insbesondere die Führung von Unternehmen und Organisationen in der Pflicht und Verantwortung, ein verstärktes Bewusstsein für Empathie, Einsicht, Resonanzfähigkeit und Sinnfindung wieder in wirtschaftliches Handeln zu integrieren. Dies steht dem Leistungsprinzip der Wirtschaft keineswegs entgegen, sondern erweitert und ergänzt es um wesentliche Kompetenzen eines „Lustleistertums“, die für den Wandel der Wirtschaft und Gesellschaft dringend notwendig sind.

Als spiritueller Lehrer, Mönch und gleichzeitig Verantwortlicher in einem durchaus auch wirtschaftlichen betrieblichen Kontext eines Klosters unterstreicht Pater Anselm Grün in seinem Interview die große Bedeutung der Führung für die Etablierung einer gesunden Unternehmenskultur. Für die Entwicklung der Führungskräfte und ihrer Mitarbeiter hin zu mehr Bewusstsein im Arbeitsalltag können Übungen und Rituale sehr unterstützend wirken. Das große Ziel ist es schließlich, die Wirtschaft aus der einseitig ökonomischen wieder in eine ganzheitliche Ausrichtung zu bewegen, die sich im Dienst aller Menschen sowie der Natur als gemeinsamen Kosmos begreift.

In seinem Interview beschreibt Jens Riese, wie er auf der Suche nach den wesentlichen Fragen des Lebens einen vielseitigen Berufs- und Lebensweg von der Biologie, über die Wirtschaft und Entwicklungsarbeit schließlich zur Psychologie und spirituellen Traditionen durchlaufen hat. Die Herausforderung die unterschiedlichen Erkenntnisse dieser Lebensbereiche zu einem sinnhaften Gesamten zu integrieren, mündet für ihn in der Bewusstseinsarbeit jedes Einzelnen. Nur wenn Menschen, die Verantwortung für Unternehmen und andere Menschen tragen, ihre eigenen Traumata lösen ebenso wie den Zugang zu ihren tiefen Sehnsüchten und Potentialen eröffnen, können sie in der Wirtschaft den Weg ebnen für ein sinnstiftendes Handeln, das sich am Gemeinwohl statt an kurzfristigem Profit orientiert.

Markus Hänsel beschreibt in seinem Artikel „Die spirituelle Dimension im Kontext des professionellen Coaching“ die Verzahnung von Spiritualität und Coaching. Er sieht in der Begleitung von Menschen und Organisationen, dass vergleichbare Werte gefördert werden, wie sie in der Spiritualität vorkommen: Kompetenzen zur Selbstregulation, Differenzierung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, Empathie und Achtsamkeit. Das Verständnis von Coaching, dass dort lediglich Handwerkszeug und Techniken vermittelt werden, um – salopp gesagt – besser klarzukommen, sieht er als zu eng. Die emotionalen Werte kommen in der Arbeitswelt viel zu kurz, und das führt ebenfalls zu Arbeitsstörungen und Störungen im Betriebsablauf. Durch seine Standortbestimmung der Profession des Coaching wird deutlich, dass er Coaching als sehr umfassend versteht, und zwar mit den Schwerpunkten persönlich – professionell – organisationsbezogen. Über sein Verständnis von Spiritualität ist klar erkennbar, wie sehr Spiritualität mit dem Coaching-Prozess verwoben ist.

Franz Theo Gottwald nähert sich in seinem Beitrag „Ganzheitlich denken im Management? Ein Essay aus der persönlichen Erfahrung als Führungskraft und zum Risiko des spirituellen Materialismus“ suchend dem Prozess des Denkens, der sich in der Körperlichkeit zeigt, den Sinnesorganen, den eigenen Erfahrungen, dem soziokulturellen Hintergrund bis hin zur Ursprünglichkeit des kreativen Bewusstseins. Er nimmt uns bei seinem Suchprozess nachvollziehbar Schritt um Schritt mit. Durch eine große Öffnung gegenüber spirituellen Praktiken geschehe es, dass für Führungskräfte „Spiritualität die neue Normalität im Business geworden ist“ und damit dem spirituellen Materialismus Tür und Tor geöffnet sind, nämlich diese Praktiken anzuwenden, um kreativer, besser, erfolgreicher. … zu werden. Das ganzheitliche Gewahrsein ist nicht herstellbar, es geschieht. Durch ständiges Üben kann es gelingen, „Handlungsimpulse und Denkbewegungen auszuhalten, ohne sofort zu reagieren.“ Seine Ausführungen wollen „hinweisen, aufzeigen, sensibilisieren für die Öffnung des Denkens zum Ganzen des Lebens hin“.

Eine ganz andere Herangehensweise hat Albert Pietzko mit der Frage „Braucht Wirtschaft wirklich Spiritualität? Eine Antithese“. Über eine Begriffsbestimmung von Spiritualität, die alle Erscheinungsformen umschließt, zeigt er auf, dass auch Wirtschaft in der Spiritualität enthalten ist. Er betrachtet Spiritualität aus der Sicht der Sehnsucht und aus der Sicht der Angst und kommt zu dem Schluss, dass Spiritualität gut als Projektionsfläche geeignet ist. Seiner Ansicht nach rettet Spiritualität nicht die Wirtschaft, wenn sie in eine Krise gekommen ist. Sondern, so plädiert Pietzko, wir brauchen „intelligente Lösungen für bestehende Probleme wie Klimaschutz, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Menschlichkeit in der Flüchtlingspolitik, Tierwohl, Beschäftigungssicherheit, Versorgung mit Lebensmitteln u.v.m.“

Nun ist in dieser Zeit verstärkt ein Reflektieren möglich, wohl auch erforderlich: Was bedeutet mir meine Arbeit, liebe ich sie? Was brauche ich wirklich zum Leben? Es ist wohl sehr wahrscheinlich, dass ein Umdenken in dieser Hinsicht notwendig ist. So haben wir noch kurzfristig einen nachdenkenswerten Text von Thilo Hinterberger aufgenommen, der wohl auch noch Gültigkeit haben wird, wenn diese besondere Zeit vorbei ist.

Der sehr verehrte Pater Willigis Jäger ist von uns gegangen. Sie finden einen Nachruf von Harald Piron.

Ankündigungen über Veranstaltungshinweise entfallen aus gegebenem Anlass. Die vielen Online-Angebote mitzuteilen, würde diesen Rahmen wohl sprengen.

Wir wünschen Ihnen ein inspirierendes Lesevergnügen.

Markus Hänsel und Dorothee Wienand-Kranz

Veröffentlicht
2020-06-01