Editorial

  • Markus Hänsel
  • Harald Piron
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Das vorliegende Heft konzentriert sich auf den Themenschwerpunkt „Kollektive Transformation“. Die Heftbeiträge beleuchten aus verschiedenen konzeptuellen wie auch professionellen Perspektiven die Bedeutung transformativer Entwicklungen in der heutigen Gesellschaft. Die große Herausforderung dabei ist es, die Tiefe der eher individuell ausgerichteten Perspektiven der Psychologie, Psychotherapie und spirituellen, transpersonalen Ansätze auf die Breite einer kollektiven gesellschaftlichen Ebene zu bringen. Die zweite Herausforderung ist es, verschiedene Intentionen zu verbinden: zum einen die Ebene des Beschreibens und Erklärens aktueller gesellschaftlicher Veränderungen und ihrer Hintergründe und Dynamiken – zum anderen den Entwurf von praktischen Vorgehensweisen und Ansätzen, diese Transformationsbewegungen konstruktiv und wirksam aufzugreifen und weiterzuführen.

Gerald Hüther beleuchtet die neurobiologische Ebene von Veränderungsprozessen im Individuum als Teil von sozialen Prozessen und Gesellschaft(en) im kulturellen Kontext und Wandel. Alles befindet sich im Fluss ständiger Veränderungen, so auch unser Gehirn. Unser Gehirn wird ausgeformt von sozialen Prozessen, unterliegt daher kulturellen Veränderungen und ist somit Teil einer phylogenetischen und ontologischen Entwicklung, die sowohl aus ständig neuen Krisen wie auch aus unzähligen Transformationen besteht. Mit unserem Gehirn nehmen wir an einer biologischen Evolution teil und sind immer wieder herausgefordert, alte, inzwischen hinderliche oder überflüssige neuronale Gewohnheiten loszulassen und zu überwinden. Hüther sieht im Gehirn dabei weniger den Niederschlag einer separaten Persönlichkeit, sondern vielmehr eine sich stets verändernde Struktur, die Ausdruck bisheriger Sozialisationsprozesse und aktueller Beziehungen darstellt.

Der Artikel von Daniel Sieben, „Ganz Mensch Sein“, zeichnet ein Bild der Tiefendimension der Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft. Er geht davon aus, dass kollektiv entstandene und immer noch wirksame Traumata dabei einen weithin hemmenden Einfluss auf tiefgreifende Veränderungen haben. Die damit verbundenen Ängste und die wenig entwickelten Bewältigungsformen erzeugen negative gesellschaftliche Prozesse wie Verdrängung, Verleugnung und Spaltung. Damit entstehen sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene ökologische, soziale und spirituelle Fehlentwicklungen. Aus dieser Warte bewegt sich der Versuch, gesellschaftlich mehr Nachhaltigkeit einzuführen, eher an der Oberfläche, die stärker daran orientiert ist, den Status quo zu erhalten, als wirkliche Transformation zuzulassen. Um diese Verarbeitungsmuster zu verändern, stellt der Autor verschiedene Perspektiven und Ansätze vor, um die Tiefendimension der Transformation miteinzubeziehen.

Der Beitrag „Demokratie aus einer psychologisch-systemischen Perspektive entwickeln“ von Josef Merk und Susanne Socher stellt ein Forschungsprojekt des Vereins Mehr Demokratie e.V. vor, bei dem Vertreterinnen und Vertreter aus Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft spezifische Fragestellungen zur Vertiefung und Weiterentwicklung demokratischer Prozesse mit der Methodik der Systemaufstellungen untersuchen.

Mit einem speziell dafür entwickelten Auswertungsverfahren lassen sich daraus Thesen aus psychologisch-systemischer Sicht und neue Handlungsmöglichkeiten ableiten, die das Selbstverständnis und Zusammenspiel von Bürgerinnen und Bürgern sowie von demokratischen Einrichtungen weiterführen sollen. Damit wird das Spektrum demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten ergänzt, wie zum Beispiel in den aktuell auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene durchgeführten Bürgerräten.

In „The Science of Witnessing: A quantum approach“ untersucht Prof. Kazuma Matoba das Konzept der „Zeugenschaft“ (engl.: witnessing) in seiner Bedeutung für gesellschaftliche Veränderungen. Der Artikel spannt dabei einen Bogen vom Erleben spezifischer Bewusstseinszustände im Rahmen spiritueller Erfahrungen zum Erleben kollektiver sozialer Prozesse. Zum Verständnis der dabei auftretenden Phänomene bezieht sich der Artikel auf eine soziale Feldtheorie, die unter anderem die Implikationen des quantenphysikalischen Weltbildes aufgreift und diskutiert. Nicht nur durch die technologisch-mediale Vernetzung, sondern auch durch die damit entstehenden sozialen Interdependenzen erleben wir aktuell eine völlig neue Form des globalen Bewusstseins, in dem potenziell die gesamte Menschheit an kollektiven Ereignissen involviert ist. Dies wiederum hat unmittelbare Auswirkungen auf die globalen Transformationsprozesse, die in vielen gesellschaftlichen Bereichen aktuell anstehen. Der Artikel wurde vom Autor in englischer Sprache verfasst und von der Redaktion im Original zur Verfügung gestellt, um ein möglichst kongruentes Verständnis zu erlauben.

Jens Riese stellt in einem Interview den Hintergrund und die Arbeitsweise des sogenannten „Pocket Projects“ vor, eines praxisorientierten Ansatzes zur Erkundung und Bearbeitung kollektiver Traumata und ihrer Bedeutung für die kollektive Transformation. Die Arbeit wird in einem spezifischen Arbeitssetting durchgeführt, das einer Gruppe sowohl verschiedene Herangehensweisen wie Austausch und Dialog als auch spirituelle Erfahrungen ermöglicht.

Ebenfalls in einem Interview geht Alexander Poraj auf Fragen und Probleme zum großen Thema der gesellschaftlichen Transformation ein. Er betrachtet dies aus einem weiten historischen Blickwinkel heraus und spannt dabei einen großen Bogen zwischen philosophischen, spirituellen, psychologischen, ökologischen und ökonomischen Aspekten und Entwicklungen. Dabei macht er auf gewisse Gefahren aufmerksam, in die wir aufgrund unseres heutigen Verständnisses von Identität, Mensch, Welt oder Umwelt und Wirklichkeit hineingeraten bzw. in die wir bereits verstrickt sind. Unsere „Lösungsansätze“ und Symptombehandlungen folgen somit einer bestimmten konzeptuellen Vorstellungswelt, zu der auch das Selbstverständnis des (post-)modernen Individuums gehört. Alexander Poraj beleuchtet dabei auch die kollektiv verbreiteten Narrative, die unser Leben, Denken, Handeln, Fühlen und unsere Vorstellungen von Glück prägen und seiner Ansicht nach stark überarbeitungswürdig oder gar überwindungsbedürftig sind.

Markus Hänsel, Harald Piron

Veröffentlicht
2022-03-04