Editorial
Zusammenfassung
Liebe Leserinnen und Leser,
die Beiträge dieser Ausgabe befassen sich mit Problemen und Krisen, die im Kontext eines gezielt gewählten spirituellen Entwicklungsweges auftreten können, ebenso aber auch infolge der Ausübung von bewusstseinsverändernden und transformativen Praktiken unter rein säkularen Motiven. Derlei Krisen und Probleme wurden in der Vergangenheit unter verschiedenen Begrifflichkeiten diskutiert und beforscht. Die populärsten Begriffe dürften jedoch der Begriff der „spirituellen Krise“ und neuerdings der Begriff der „unerwünschten Nebenwirkungen der Meditation“ sein. Aus diesem Grund und weil diese beiden Begriffe auch den zeitlichen Verlauf der Entwicklung der Thematik in Wissenschaft und Anwendung recht gut widerspiegeln, haben wir diese Themenschwerpunktausgabe „Spirituelle und meditationsinduzierte Krisen“ benannt.
Der Beitrag von Liane Hofmann führt in den Themenschwerpunkt dieser Ausgabe ein, indem sie die Entwicklungsgeschichte des Konzepts der spirituellen Krise und die damit verbundenen Sichtweisen und Anliegen erläutert. Hierfür werden zunächst die gesellschaftlichen Hintergründe und die Ausgangssituation innerhalb der akademischen Disziplinen der Psychologie und der Psychiatrie näher beleuchtet, die wesentliche Ausgangspunkte und Impulsgeber für die heute feststellbaren Weiterentwicklungen auf diesem Gebiet waren. Es werden zentrale historische Stationen, Autoren und deren Publikationen gewürdigt, die unser heutiges psychologisches Verständnis von Spirituelle-Krisen-Prozessen maßgeblich geprägt und zu dessen stetiger Vertiefung beigetragen haben. Darauffolgend wird auf einige praxisbezogene, klinisch-therapeutisch relevante Fragen eingegangen. Der Beitrag schließt mit der Benennung von Faktoren, die zur nach wie vor ungenügenden Versorgungslage bei Spirituelle-Krisen-Prozessen beitragen, sowie Überlegungen zu Desideraten bezüglich der weiteren wissenschaftlichen Erforschung und einer Verbesserung des Versorgungsangebotes für Betroffene.
Ein wichtiger Grund für die starke Verbreitung von Meditation in der Gegenwart sind ihre positiven gesundheitlichen Wirkungen. Im Beitrag von Ulrich Ott, Michael Tremmel und Freya von Hohnhorst wird der Blick hingegen auf die vergleichsweise junge empirische Forschung gerichtet, die die Vielfalt und Häufigkeit unangenehmer „Nebenwirkungen“ von Meditation untersucht. Diese umfassen ein weites Spektrum von Phänomenen, die von ungewöhnlichen Körperempfindungen, erhöhter Empfindsamkeit, intensiven Emotionen (Angst, Trauer, Wut) bis hin zu drastischen Veränderungen der Selbst- und Weltwahrnehmung reichen und die gelegentlich sogar in eine stationäre psychiatrische Behandlung münden. Der Überblick über die neuesten empirischen Studien zeigt deutliche Unterschiede in der Auftretenshäufigkeit von Nebenwirkungen je nach Setting und der damit verbundenen „Dosis“ an Meditation. Die differenzierte Erfassung von Nebenwirkungen und Einflussfaktoren, wie psychische Erkrankungen in der Vorgeschichte oder die Qualifikation der Lehrenden, kann in der Zukunft dazu beitragen, präventive Maßnahmen zu ergreifen, um potenzielle Risiken zu minimieren.
Ein Hinweis auf das vorhandene Risiko ist der neue Beratungsschwerpunkt, den Liane Hofmann und Ulrich Ott am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) in Freiburg im Breisgau etabliert haben. In ihrem Beitrag stellen sie die Klientel und die Konzepte dieses Beratungsangebotes detailliert vor: Wer richtet sich mit welchen Anliegen an die Beratung? Neben typischen Fallkonstellationen werden zwei exemplarische Fälle skizziert. Wie ist das Vorgehen bei der Beratung von Betroffenen, die in ihrem Umfeld häufig auf wenig Verständnis treffen für das, was sie erlebt haben? Welche Maßnahmen haben sich als hilfreich erwiesen? Flankiert wird die konkrete Beratungstätigkeit durch die Begleitforschung mit Fragebogen, die dabei helfen, einzelne Elemente bestimmter Erfahrungen (z. B. Kundalini-Erwachen) oder relevante Persönlichkeitsmerkmale (z. B. die Absorptionsfähigkeit) genauer zu erfassen. Damit soll langfristig ein Beitrag zum wissenschaftlichen Verständnis außergewöhnlicher spiritueller Erfahrungen geleistet werden, das wiederum in der Beratung genutzt werden kann, um Betroffenen nachvollziehbare Erklärungen für ihre Erfahrungen anzubieten, die deren Akzeptanz und Integration erleichtern.
Zu den verschiedenen Settings, in denen die Meditationspraxis eingeübt und vertieft werden kann, gehört auch die Teilnahme an einem mehrtägigen Retreat, im Zazen „Sesshin“ genannt. Solche Retreats gelten als äußert anspruchsvoll und sie erfordern eine gute psychische Stabilität der Teilnehmenden. Der Benediktushof in Holzkirchen ist eines der größten spirituellen Zentren in Europa und es werden dort regelmäßig mehrtägige Sesshins angeboten. Alexander Poraj und Michaela Nüssel beschreiben in ihrem Beitrag das Spektrum der Maßnahmen, das am Benediktushof etabliert wurde, um einen sicheren Verlauf der Praxis zu gewährleisten und möglichen krisenhaften Verläufen vorzubeugen. Auch für die psychologische Begleitung seltener, dennoch auftretender Krisen sowie für die Unterstützung bei der Integration neuartiger und tiefgreifender psychospiritueller Erfahrungen ist im Rahmen eines neu eingerichteten Angebots der „Psychologischen Begleitung auf dem Weg“ während oder im Anschluss an das Retreat gesorgt. Darüber hinaus kann dieses Begleitungsangebot auch dazu dienen, den Übergang von einer Zeit der intensiven Praxis in den Alltag zu unterstützen. Die präventiven und begleitenden Maßnahmen des Benediktushofs können somit als ein Best-Practice-Beispiel der Vorbeugung von krisenhaften Prozessen im Retreatkontext erachtet werden.
Die Einnahme von psychedelischen Substanzen ist neben Meditation eine verbreitete Methode zur Induktion spiritueller Erfahrungen, die sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben können. Maximilian Heck stellt in seinem Beitrag die Ergebnisse seiner Masterarbeit an der Universität Münster vor, in der er untersucht hat, welchen Einfluss Vorerfahrungen mit Meditation und die Ausprägung von Achtsamkeit und Absorptionsfähigkeit auf psychedelische Erfahrungen und ihre Nachwirkungen haben. Tatsächlich schließen sich Meditationspraxis und die Einnahme von Psychedelika ja keineswegs aus. In einer bahnbrechenden Studie in der Schweiz wurde gezeigt, wie die Einnahme von Psilocybin während eines fünftägigen Zen-Retreats zu einer Vertiefung von Meditationszuständen und zur Verstärkung positiver Nachwirkungen führte (Smigielski, Kometer et al., 2019). Umgekehrt beleuchtet Maximilian Heck in seinem Beitrag, welchen Einfluss Vorerfahrungen mit Meditation auf psychedelische Trips und deren Nachwirkungen haben können. Anhand eines Strukturgleichungsmodells veranschaulicht er grafisch, welchen hemmenden oder fördernden Einfluss Meditationspraxis, Achtsamkeit und Absorptionsfähigkeit auf positive oder negative psychedelische Erfahrungen sowie ihre Nachwirkungen haben.
Den Abschluss der vorliegenden Themenschwerpunktausgabe bilden zwei überaus spannende und erkenntnisreiche Interviews mit zwei prominenten Vertretern der Spirituelle-Krisen-Thematik: Joachim Galuska und David Lukoff. Dabei sahen wir uns aus Platzgründen leider veranlasst, das Interview mit David Lukoff erst in der kommenden Ausgabe 1/2025 abzudrucken. Aufgrund ihrer beider Zugehörigkeit zum Themenschwerpunkt „Spirituelle und meditationsinduzierte Krisen“ möchten wir an dieser Stelle jedoch die beiden Interviews gemeinsam ankündigen. Joachim Galuska, Mitbegründer der Heiligenfeld Kliniken, hat sich über seine ganze berufliche Laufbahn hinweg um die Integration von Spiritualität in die Gesundheitsversorgung bemüht und darüber hinaus immer neue, inspirierende und vielfältige Projekte für eine bessere Versorgung von Menschen, die von spirituellen und religiösen Problemen betroffen sind, sowie für die Etablierung einer Kultur des Bewusstseins angestoßen. David Lukoff gilt als einer der renommiertesten Vertreter aus dem US-amerikanischen Raum. Er hat die Themenfelder spirituelle Krisen, spirituelle und religiöse Probleme sowie die Entwicklung von spirituellen Kompetenzen unter klinischen Praktikerinnen und Praktikern im psychologischen Mainstream vorangetrieben und salonfähig gemacht. Es war mir, Liane Hofmann, eine große Freude, diese beiden Interviews zu führen, und wir sind sehr dankbar, dass die beiden Autoren sie zugesagt haben. Die beiden Gespräche künden von einem großen persönlichen und beruflichen Erfahrungsschatz hinsichtlich des spirituellen Entwicklungsgangs, einschließlich der möglichen Krisen, die auf einem solchen Weg auftreten können. Allein diese Interviews zu führen, fühlte sich wie eine sehr inspirierende Weiterbildung zum Thema an.
Und nun noch etwas in eigener Sache: Heinrich Dauber und Dorothee Wienand-Kranz haben sich nach vielen Jahren, in denen sie im Redaktionsteam dieser Zeitschrift tätig waren, entschieden, diese Tätigkeit nun zu beenden und in den redaktionellen Ruhestand einzutreten. Wir möchten uns im Namen des gesamten Redaktionsteams an dieser Stelle ganz herzlich für ihre langjährige Unterstützung und ihr Engagement für das gemeinsame Anliegen der Förderung einer Kultur des Bewusstseins bedanken! Last but not least werden wir den stets sehr herzlichen und inspirierenden Austausch mit ihnen sehr vermissen.
Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen der Beiträge und neue Einsichten, die Sie in Ihrem privaten und/oder auch beruflichen Leben fruchtbar umsetzen können.
Liane Hofmann & Ulrich Ott