Editorial
Zusammenfassung
Liebe Leserinnen und liebe Leser,
das aktuelle Themenheft beschäftigt sich mit außergewöhnlichen Erfahrungen, Erlebnissen und Wahrnehmungen sowie dem Umgang damit. Der gleichermaßen wissenschaftliche wie weltoffene Anspruch unserer Zeitschriftenreihe, vom vorherrschenden normativ materialistisch geprägten Weltbild abweichende Sichtweisen und Deutungen zuzulassen, wird insbesondere auch im Umgang mit Erfahrungen deutlich, die nicht alltäglicher Natur sind. Alle Artikel fordern insofern den Rezipienten mehr oder weniger auf, die Filter der gewohnten Denkmuster ein wenig zu lockern. Dennoch wird es genügend Vertrautes geben, das in das doch relativ offene, überdurchschnittlich weite Weltbild unserer Leserschaft hineinpasst. Die Verbindung zwischen dem Bewussten und dem Unbekannten, zwischen Rationalität und dem Irrationalen und Transrationalen, zieht sich durch dieses Heft wie ein roter Faden.
Der Psychotherapeut Viktor Terpeluk geht in seinem Beitrag auf Nahtoderfahrungen (NTE) ein und stellt ihren enormen Wert für die Psychotherapie und Sinnfindung heraus. Auch wenn die Deutung von Nahtoderfahrungen als kurzzeitige Einblicke in eine jenseitige Welt bzw. spirituelle Wirklichkeit für viele Wissenschaftler immer noch als höchst zweifelbar angesehen wird, scheinen die Wirkungen und transformierenden Erkenntnisse der Betroffenen doch ganz offensichtlich einen nachhaltigen, nicht anzuzweifelnden Wert zu offenbaren. Am deutlichsten tritt dieser Wert für Prozesse der Sinnfindung, Selbstrealisierung, Lebensführung und Neuausrichtung bzw. Korrektur von Werten in Erscheinung. Die Relevanz für Lebensziele, persönliche Entwicklung, höhere Grade von seelischer Gesundheit und somit auch für die Psychotherapie arbeitet der Autor anschaulich heraus. In seinem ganzheitlichen Therapieansatz lässt er Visualisierungen einfließen, die er exemplarisch auf seiner Webseite zur Verfügung stellt.
Das Erinnern an frühere Leben, wie es sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen bereits vielfältig und eindrucksvoll in der einschlägigen Literatur dargelegt wurde, bildet den thematischen Schwerpunkt des Reinkarnationsforschers Dieter Hassler. Er untersuchte metaanalytisch eine beeindruckend große Menge an Berichten und hat eine Übersicht zusammengestellt, nach der sich die Evidenzen und ihre überprüften Kriterien ordnen lassen. Hassler bringt auf diese Weise Klarheit und Licht in den Dschungel der empirischen, erfahrungs- und erinnerungsbezogenen Literatur zum Thema frühere Leben und Reinkarnation. Die Beispiele, die er aus seinen umfangreichen drei Bänden für diesen Artikel extrahiert hat, sind besonders anschaulich und konkret. Er kommt zu dem Schluss, dass die Indizien mit anderen Erklärungsansätzen und Deutungsrahmen, die nichts mit Reinkarnation zu tun haben, nicht plausibel und widerspruchsfrei begründet werden können.
Mit ungewöhnlichen Erfahrungen und Erinnerungen im weiteren Sinne befasst sich der Psychotherapeut Harald Piron in seinem Beitrag. Er berichtet über Klientinnen und Klienten, bei denen er im Laufe der Therapie auf ungewöhnliche Erlebnisse stieß. Die Klienten fühlten sich aufgrund des wachsenden Vertrauensverhältnisses irgendwann frei genug, um auch über Dinge zu sprechen, die nicht in das übliche, rationale Weltbild passen. Manches davon konnte im Zusammenhang mit psychopathologischen Symptombildungen gedeutet werden, anderes hatte eher einen ressourcenhaften, heilsamen Charakter. Manchmal vermischte sich auch beides zu einem „Sowohl-als-auch“. Piron stellt dabei nicht den objektiven Wahrheitsgehalt bzw. den wissenschaftlichen Nachweis solcher Erfahrungen in den Vordergrund, sondern die subjektive Bedeutung für die Betroffenen. So verlagert er den Schwerpunkt seiner Arbeit schließlich auf den salutogenen, entwicklungsförderlichen Umgang mit außergewöhnlichen Erfahrungen.
Walter von Lucadou lenkt unseren Blick auf das Thema Grenzerfahrungen, die auch paranormale Erlebnisse einschließen. Diese Erfahrungen sind oft ein Tabu in der akademischen Psychologie, aber sie sind dennoch weit verbreitet in der Gesellschaft. Der Artikel verdeutlicht, wie die Parapsychologie als interdisziplinäre Wissenschaft versucht, diese Phänomene zu verstehen, und sie durch theoretische Modelle erklärbar macht. Walter von Lucadou bietet darüber hinaus Einblicke in die Parapsychologische Beratungsstelle, die als Anlaufstelle für Menschen dient, die solche Erfahrungen gemacht haben. Hier wird Unterstützung bei der Bewältigung und Interpretation dieser Erlebnisse geboten. Dabei wird auch deutlich, wie die individuellen Interpretationen und Erklärungen der Betroffenen als wertvolle Ressourcen genutzt werden können.
In einer Welt, die oft von rationalen und festgefügten Denkmustern geprägt ist, führt uns der Beitrag von Dirk Revenstorf und Thilo Hinterberger in die Welt der dekonstruierenden und entropischen mentalen Zustände. Diese Zustände, die vorübergehend die Ichstruktur und andere mentale Strukturen auflösen, werden als Schlüssel zur Kreativität und zur salutogenen Neuorientierung betrachtet. Die Autoren erkunden Methoden wie Hypnoseinduktion und den Einsatz psychoaktiver Substanzen, um solche Zustände zu erreichen. Sie werfen Licht auf die verschiedenen Facetten dieser Erfahrungen und zeigen auf, wie sie unsere Wahrnehmung und unser Denken erweitern können.
Auch in unserer modernen Ära der Wissenschaft und Technologie bleibt das Bewusstsein ein faszinierendes und oft rätselhaftes Phänomen, das nach wie vor zahlreiche Fragen aufwirft. Der Artikel von Nike Walter unterstreicht diese fortdauernde Herausforderung und verdeutlicht, dass die Erforschung des Bewusstseins nicht allein auf methodische Aspekte beschränkt ist, sondern auch unsere grundlegenden Annahmen über die Natur des menschlichen Geistes infrage stellt. In diesem Zusammenhang wird das Konzept der selbstorganisierten Kritikalität aus der Physik auf das Gehirn übertragen und dies eröffnet aufregende neue Ansätze zur Untersuchung der neuronalen Grundlagen des Bewusstseins. Diese Herangehensweise verspricht, unser Verständnis dieses faszinierenden Phänomens erheblich zu erweitern und neue Perspektiven in der Bewusstseinsforschung zu eröffnen.
Wir wünschen Ihnen eine anregende, inspirierende Lektüre.