Editorial

  • Harald Piron
  • Dorothee Wienand-Kranz
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

Das Thema für dieses Heft ergab sich in unserer Online-Teamsitzung im Frühling. Die Idee, Corona zum Thema für das nächste Heft zu machen, lag nahe. Ebenso war aber auch klar, dass wir uns dieses Themas nicht in der Weise annehmen würden, wie es sonst in den Medien Tag für Tag der Fall war. So fragten wir gezielt Autoren und Autorinnen an, die Corona als Aufhänger für einen ganzheitlicheren Umgang mit Krisen bzw. dem Krisen-Begriff oder als Aufwecker für eine sowieso anstehende kollektive Transformation verstehen würden. Die Resonanz der angefragten Autoren und Autorinnen war sehr groß. Das Ergebnis halten Sie in den Händen.

Wie immer geben die Beiträge nicht die Meinungen des Redaktionsteams wieder, sondern wollen neue Impulse, Ansätze und Perspektiven anbieten, die für den Umgang mit globalen Krisen, Herausforderungen und Transformationspotenzialen hilfreich sein können. Jeder dieser Ansätze nimmt einen etwas anderen Blickwinkel ein, auch wenn es dabei sicher mehr Gemeinsamkeiten als Widersprüche geben mag. Die Schwerpunkte variieren zwischen individuellem und kollektivem Trauma, persönlicher und globaler Krise, berücksichtigen dabei psychologische, soziologische, philosophische und spirituelle Aspekte, pendeln zwischen Praxis und geistiger Meta-Ebene und ergeben somit, wie viele Puzzle-Teile zusammen, ein Ganzes.

Der Theologe, Mystik-Experte und Zen-Meister Alexander Poraj nimmt den Leser mit auf eine introspektive, meditative Reise und begibt sich mit ihm auf die Suche nach dem Wesen der Krise, des Ichs und des Sinns. Lässt man sich darauf ein, wird man von seinen Worten wie von einem Floß auf dem Fluss ins Sein getragen. Corona, als aktuelles Beispiel einer Krise, wird somit zu einem Medium oder Mittel, um unser Bewusstsein für eine Wirklichkeit zu öffnen, die größer ist als der Verstand. Abschließend skizziert er eine Bewusstseinshaltung, die er „Possibilist“ nennt.

Piero Ferrucci geht auf die Wellen der Angst ein, die vor Frühlingsbeginn durch Corona ausgelöst wurden, aber schon viel früher durch Kriege und Krisen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte im kollektiven Trauma-Gedächtnis existierten. Gerade zu solchen Zeiten sei es äußerst notwendig, sich nicht mit den Inhalten der Angst zu identifizieren, sondern mit dem innersten Selbst in Kontakt zu kommen. Eine Fülle an Möglichkeiten bietet dazu die Psychosynthese. Durch Meditationen, Potenzial-Visualisierungen, ästhetische Erfahrungen, die Beschäftigung mit Kunst, Literatur und Musik, wie auch durch die aktive Umsetzung von Mitgefühl und ein gegenseitiges, solidarisches „Sich-Verbinden“ können Krisen überwunden oder sogar als Chancen für Transformation genutzt werden. Seine angeleitete Übung hierzu ist sehr essenziell und beispielhaft.

Mike Kauschke lenkt in seinem Beitrag die Bewusstheit auf Vertrauen bzw. Misstrauen in dieser Zeit; Vertrauen in die Informationsquellen, aber natürlich auch Vertrauen in unsere Mitmenschen, ob sie sich in dieser Zeit verantwortungsbewusst genug verhalten, bis hin zum Vertrauen in einen guten Ausgang, in eine vielleicht bessere Zukunft. Die Frage ist auch: Wem vertraue ich mehr, dem Mainstream oder den gegenläufigen Informationen? Er sieht in der Krise eine starke Herausforderung, mit der Ungewissheit zu leben, die Kraft und Sicherheit aus der eigenen Mitte zu finden sowie auch in der Bewusstheit unserer Verbundenheit mit allem.

Harald Piron beleuchtet Verschwörungstheorien, die in dieser Zeit, aber auch immer schon, grassieren und grassierten, sehr differenziert und konkret. Verschwörungstheorien werden oft als Totschlag-“Argument“ angewendet bei kritischen bzw. andersdenkenden Fachleuten gegenüber dem Mainstream. An etlichen Beispielen zeigt er auf, dass einst als Verschwörungstheorie verunglimpfte Sichtweisen sich später durchaus als wahr herausstellten. Ferner gibt er verschiedene Erklärungen, wodurch Verschwörungstheorien entstehen, z.B. bei geringem Faktenwissen, persönlicher Unsicherheit, aber auch bei Rebellion gegenüber bestimmten Anordnungen. Immer wieder spielen Medien bei der Festschreibung bestimmter Verschwörungstheorien eine wichtige Rolle. Verschwörungstheorien können sehr unterschiedlich ausfallen hinsichtlich ihres Grades der Vereinfachung, ihres zugrundeliegenden Wertesystems, der aktuellen sozialen, wirtschaftlichen und machtpolitischen Dynamiken und in der Abweichung vom aktuellen wissenschaftlichen wie kollektiven Kenntnisstand. Er klärt über die verschiedenen Funktionen von Verschwörungstheorien auf. Schließlich sind für ihn Verschwörungstheorien aus transpersonaler Sicht derart zu erklären, dass wir uns nicht mit offiziellen Fakten zufrieden geben können, sondern hinter die Gegebenheiten schauen wollen, um zu einer tieferen „Wahrheit“ zu gelangen.

Der Kinderarzt Stefan Schmidt-Troschke fokussiert seine Gedanken auf Heilung bei einer Krankheit. Dies lässt sich auch übertragen auf jede andere Krise. Er zeigt unterschiedliche Ziele für Heilung auf: Im medizinischen Sinn wird der Zustand vor der Krankheit angestrebt mit entsprechenden Methoden und Techniken. Heilung kann aber weit mehr sein, nämlich mit Hilfe der Erfahrung der Krankheit und dem Heilungsweg einen neuen, erweiterten Gleichgewichtszustand zu erreichen. Dazu gehört eine andere, offene Sicht, eine Aufmerksamkeit für den Heilungsprozess mit offenem Ausgang. Er stellt ein Phasenmodell vor, innerhalb dessen vier Felder der Aufmerksamkeit beschrieben werden können: Innehalten – Hinschauen – Hinspüren – Zentrieren. Diese vier Felder können bei dem einzelnen Menschen zu einer Transformation führen, jedoch ebenso in der gesamten Medizin, im Gesundheitswesen und in weiteren Gebieten wie etwa im Bildungssystem.

Traumatisierungen und die wechselseitig befruchtende Wirkung von Meditation und körperorientierter Traumatherapie bilden das zentrale Thema des Beitrags der Würzburger Psychotherapeutin Sarah Langen. In ihrer psychotherapeutischen Arbeit mit Klientinnen und Klienten, die selber einen meditativen Weg gehen, fiel ihr wiederholt auf, dass unverarbeitete oder verdrängte traumatische Erfahrungen einen dissoziativen Effekt auf das meditative Erleben ausüben können. Die meditative Erfahrung kann oberflächlich betrachtet wie ein tiefer transpersonaler Bewusstseinszustand „aussehen“. Es wird eine Leere erfahren. Doch diese Leere ist nicht unbedingt mit jener Leerheit gleichzusetzen, die bspw. in der christlichen oder buddhistischen Mystik bekannt ist. Praktizierende mit traumatischen Erfahrungen in der Vergangenheit können Meditation auch „missbrauchen“, um sich (noch besser) von verdrängten Gefühlen abzutrennen oder aus dem verkörperten Leben zu flüchten. Meditation in Verbindung mit körperfokussierten Verfahren kann aber auch das Gegenteil bewirken, nämlich eine zunehmende Integration und Transformation. Abschließend richtet die international bekannte

Traumatherapeutin Luise Reddemann den Blick auf das allzu oft gemiedene, tabugeladene und angstbesetzte Thema der Vergänglichkeit und Endlichkeit. Hinter den Debatten über Zahlen, Statistiken und Kontroll-Strategien zum „Besiegen“ des Virus versteckt sich weiterhin etwas, das nicht erwünscht ist, die meisten nicht sehen wollen und daher verdrängen: die unumstößliche Tatsache der Verletzlichkeit und Sterblichkeit des menschlichen Körpers. So klug und sinnvoll die Strategien des sogenannten „Krieges gegen Corona“ erscheinen mögen, der Umgang mit der kollektiven Ur-Angst, dem Thema der Vergänglichkeit, wird dadurch nicht gefördert und der Tod als Tatsache lässt sich nicht abschaffen. Auf einfühlsame Art und Weise, mit Hilfe der Poesie, bietet Luise Reddemann Perspektiven und Wege an, die uns helfen können, mit den beiden Seiten bzw. Phänomenen des Lebens - Geburt und Tod - versöhnlicher umzugehen.

Auch die beiden Nachrufe, ein aktueller und ein nachträglicher, führen uns diese Tatsache schmerzlich vor Augen.

Liebe Leserin, lieber Leser, Sie ahnen vielleicht, dass hier sehr verschiedene Aspekte zu unserem Schwerpunktthema vorliegen. In der Hoffnung, dass Sie die eine oder andere für Sie förderliche Anregung bekommen, wünschen wir Ihnen ein inspirierendes Lesevergnügen.

Harald Piron und Dorothee Wienand-Kranz

Veröffentlicht
2020-12-01