Editorial

  • Heinrich Dauber
  • Dorothee Wienand-Kranz
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Liebe Leserinnen und Leser,
das Ihnen zur kritischen Lektüre vorgelegte Heft greift einen Diskussionszusammenhang auf, der viele Menschen heute rund um die Welt bewegt. Welche ökologischen und sozialen Folgen hat der hemmungslose Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Erde für die Lebensgrundlagen der kommenden Generationen auf unserem Planeten? Wer sind die Profiteure, wer die Verlierer? Woher beziehen die Millionen von Menschen, die sich in zahllosen zivilgesellschaftlichen Basisinitiativen dem grenzenlosen industriellen Wachstum entgegenstellen, ihre ethische Motivation, ihre spirituelle Kraft und kulturelle Phantasie, für eine andere Zukunft einzutreten? Auf welche Werte, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse, welche politischen oder religiös-spirituellen Traditionen, welche psychotherapeutischen Konzepte können sie zurückgreifen, wenn sie mit neuen Lebensformen experimentieren? Lassen sich moderne Wissenschaft, Spiritualität, soziale Gemeinschaft und politische Aktion überhaupt miteinander verbinden? Dass es nicht mehr so weitergehen kann wie bisher, dass wir uns mit einer umfassenden Krise des Wachstumsmodells der westlichen Industriegesellschaft und seiner weltanschaulichen Grundlagen konfrontiert sehen, wird immer mehr Menschen bewusst. Grüne Parteien erreichen Zustimmungswerte, von denen sie noch vor wenigen Jahren nur träumen konnten. Die etablierten Kirchen erreichen mit ihren Botschaften und Glaubensformen immer weniger Menschen. Der Sinn technologischer Großprojekte, die der beschleunigten Vernetzung von Ballungszentren dienen sollen, wird selbst von den Privilegierten in Frage gestellt, die davon profitieren sollen. Auf dem Hintergrund wachsender Verdrossenheit über das auf kurzfristige Erfolge beschränkte Denken und Handeln unserer Politiker und Wirtschaftsführer schießen lokale und regionale Widerstandsbewegungen wie Pilze aus dem Boden. Das von Ivan Illich und anderen vor 30 Jahren in die Debatte geworfene „NEIN DANKE“ wird zu einem weltweit unüberhörbaren Einspruch. Aber ist diese Krise nur Zeichen des Untergangs eines Zeitalters oder birgt sie in sich auch die Chance einer radikalen Neuorientierung? Mit welchen technologischen Mitteln und kulturell-spirituellen Handlungsformen ist ihr praktisch beizukommen? Und: Wie gehen wir innerlich mit diesen äußeren Krisen um? Reagieren wir wie eine erschreckend zunehmende Zahl von Menschen mit Angst und Depression oder gewinnen wir neue Lebensenergie, wenn wir uns den in den Schatten verdrängten Folgen unserer Lebensweise mit-fühlend zu stellen versuchen, um „anders besser“ zu leben? Natürlich kann das vorliegende Heft keine Antworten auf all diese Fragen geben, die ja nicht erst seit heute diskutiert werden, sondern auf zahllosen Kongressen und Versammlungen verhandelt wurden und werden, aber auch z.B. seit Jahren unter den Stichworten Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung im Zentrum des konziliaren Prozesses der Weltkirchen stehen. Die zu diesen Themen inzwischen erschienene Literatur ist unüberschaubar geworden. Was wir mit den hier zusammengestellten Beiträgen versuchen wollen, ist, einerseits den Blick auf die Rolle der weltweiten zivilgesellschaftlichen Initiativen zu lenken und andererseits auf den Zusammenhang dieser Fragen mit neuen Formen weltzugewandter spiritueller Bewusstseinsarbeit hinzuweisen. Wie können wir „innerlich“ unser individuelles Selbst mit dem größeren Ganzen des Lebens auf dieser Erde verbinden und uns im Alltag „äußerlich“ zusammenschließen, um vor Ort neue Handlungsräume für ein besseres Leben zu gewinnen? Aus dieser doppelten Blickrichtung ergibt sich die inhaltliche Gliederung der vorliegenden Ausgabe. Im ersten Teil des Heftes haben wir vier grundsätzlich orientierende Beiträge zusammengestellt (Sachs, von Lüpke, Macy, Wienand-Kranz), denen wir als praktische Beispiele einer anderen Lebensform vier Interviews mit Mitgliedern bekannter und seit langem bestehender kommunitärer Gemeinschaften unterschiedlicher Ausrichtung gegenüberstellen (Laurentiuskonvent Wethen, Lebensgarten Steyerberg, Kommune Niederkaufungen, Ökodorf Sieben Linden,). In einem dritten Teil folgen zwei forschungsorientierte Beiträge (Integrales Forum, Plesse) sowie einschlägige Rezensionen. Prof. Dr. Wolfgang Sachs, jahrelang Aufsichtsratsvorsitzender von Greenpeace Deutschland, Leiter des Berliner Büros des Wuppertal Instituts für Umwelt, Klima und Energie und Hauptautor zweier wichtiger Studien (Fair Future. Begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit; ein Report und: Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt) sowie einer Reihe international beachteter Schriften zur Kritik des Entwicklungsgedankens, plädiert in seinem Beitrag ‚Klimaschutz und Menschenrechte. Wem gehört, was übrig bleibt?“ unter Berufung „auf die Allgemeinen Menschenrechte für eine kosmopolitisch angelegte Umwelt- und Ressourcenpolitik, um in der Weltgesellschaft Subsistenzbedürfnissen den Vorrang vor Wohlstandsbedürfnissen zu sichern. Dr. Geseko von Lüpke studierte Politikwissenschaft, Völkerkunde und Journalismus und erforscht und beschreibt seit Jahren spirituelles Wachstum, menschliche Entwicklung, ganzheitliche Weltsicht und nachhaltige Zukunftspolitik. Der scheinbare Widerspruch zwischen politischem Engagement und spirituellem Wachstum führte ihn zur Tiefenökologie. 2009 erschien sein Buch „Zukunft entsteht aus Krise“, das einen wichtigen Anstoß für den thematischen Schwerpunkt dieses Heftes gegeben hat. In seinem Beitrag plädiert er für eine „Politik des Herzens“, eine Integration von politischer Analyse, emotionaler Berührung und spiritueller Verwurzelung. Joanna Macy Ph.D., die er im folgenden Beitrag interviewt und deren 2009 auf Deutsch erschienenes Buch „Geliebte Erde – gereiftes Selbst“ heißt, ist seit Jahrzehnten als internationale Aktivistin in der Friedens- und Umweltbewegung tätig. Sie gilt als Begründerin der Tiefenökologie und plädiert in ihrem Beitrag auf der Grundlage der Systemtheorie für eine neue Sicht der Wirklichkeit und damit verbunden eine kulturelle Wende und eine andere Kultur des Fühlens, in der Meditation und soziale oder ökologische Aktion eins werden. Dr. Dorothee Wienand-Kranz stellt mit der von Ruth Cohn zitierten Frage „Was möchte ich mit TZI?“ die Möglichkeiten der schon recht alten Themenzentrierten Interaktion für ein persönliches, Gruppen- und Weltbewusstsein anhand einiger Beispiele vor. Besonderen Dank schulden wir unseren vier Interviewpartnern aus vier seit langem bestehenden kommunitären Gemeinschaften, die vor allem unter dem Gesichtspunkt ihres unterschiedlichen Profils ausgewählt wurden. Diese aus Platzgründen sehr knapp gehaltenen Interviews zeigen jedoch, dass es ganz verschiedene Wege auf der Suche nach einem in ökologischer, sozialer, politischer und spiritueller Hinsicht alternativen Lebensstil geben kann. Unter Forschungsgesichtspunkten haben wir uns entschieden, ein anregendes aktuelles Positionspapier des Integralen Forums e.V. zu einer „Aufgeklärten Spiritualität“ als Prüfstand für spirituelle Lehrerinnen und Lehrer sowie eine praxisorientierte Skizze essenzieller Zugänge aus der Werkstatt von Michael Plesse, Mitbegründer der Orgodynamik®-Methode (1986) und des Seminar- und Ausbildungsnetzwerks „Orgoville International“ – Entwicklung von Essencia® (1998) zur Diskussion zu stellen. (Der zweite Teil seines Textes erscheint im nächsten Heft.) Edith Zundel, Mitherausgeberin dieser Zeitschrift, ist Ehrenpräsidentin des Integralen Forums, Michael Plesse Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift. Drei einschlägige Rezensionen (Stefanie Evers über Johannes Nikel: Die Mystik der Physik; Inga Fitzner über Maik Hosang: Der Integrale Mensch und Marga Schumacher über Ekkehard Ortmann: Der tiefste Grund ist Grund zur Freude) schließen sich an. Angesichts der Ernsthaftigkeit und Tiefe der Themen hoffen wir, Sie, liebe Leserinnen und Leser, durch die eingestreuten Karikaturen auch etwas zu erheitern. Bei der Zusammenstellung dieser Beiträge haben wir selbst viel über unseren eigenen Lebensstil nachgedacht. Über kritische, aber auch zustimmende Leserreaktionen würden wir uns sehr freuen.

Heinrich Dauber und Dorothee Wienand-Kranz

Veröffentlicht
2010-08-03