Editorial

  • Ulla Pfluger-Heist
  • Harald Piron
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Liebe Leserinnen, Liebe Leser, der Themenschwerpunkt dieses Heftes – Mystik des 21. Jahrhunderts – vereinigt Beiträge, die die Mystik und Spiritualität des (post-)modernen Abendlandes oder zentrale Konstrukte, die der Mystik entnommen wurden, zum Inhalt haben. Kennzeichen der Mystik in der Postmoderne sind das Verbindende – zwischen Ost und West sowie zwischen religiöser Tradition und der durch Säkularismus und Materialismus geprägten modernen Welt (Beitrag von Pia Gyger), zwischen Geist und Sinne (Beitrag von Thomas Yeomans), zwischen Mystik bzw. Weisheit und Psychotherapie (Beiträge von Harald Piron und Ulla Pfluger-Heist), zwischen Transzendenz und Forschung (Beitrag von Cornelius von Collande) – sowie die fließenden Übergänge zwischen authentischer Spiritualität und Pseudo-Esoterik (Beitrag von Michael Utsch). Die Mystik, wie sie heute in unserer westlichen Kultur (wieder) präsent ist, hat verschiedene Wurzeln: Zum einen gründet sie in einer Meditationspraxis, der Kontemplation, die schon auf Mose, Jesus und die „Wüstenväter“ zurückgeht, die geraume Zeit in der Stille und Einsamkeit der Wüste verbrachten, um Gott oder dem Göttlichen näher zu kommen. So schrieb z.B. der Wüstenvater Evagrius Pontikus im 4. Jh.: „Entferne die zerstreuenden Gedanken aus deiner Vorstellungswelt und lege alle irdischen Sorgen ab; denn sie stören dich und schwächen deine Kraft.“
– „Darum suche zur Zeit des Gebets unter keinen Umständen nach einem Gedankenbild.“ – „Glückselig der Verstand, der im Gebet vollkommenes Schweigen beachtet“ (zit. n. Manfred Rompf). Diese Tradition der gedankenfreien Meditation – im Christentum Kontemplation genannt – wurde im Mittelalter u.a. von Meister Eckehart (1260–1329, Johannes Tauler (1300–1361), Theresa von Avila (1515– 1565), Johannes vom Kreuz (1542–1591) und Gerhard Tersteegen (1697–1769) weitergetragen. In diesem Heft gibt der Beitrag von Harald Piron einen Einblick in die Stadien der christlichen Kontemplation nach Theresa von Avila und setzt sie in Bezug zu spirituellen Krisen, wie sie im heutigen psychotherapeutischen Kontext relevant sind. Die Zen- und Kontemplationslehrerin Pia Gyger stellt ein Projekt zur Überwindung kultureller und religiöser Schranken vor (Bsp. Jerusalem), das sie zusammen mit Niklaus Brantschen entwickelt hat. Mit den Fallstricken einer Pseudomystik befasst sich der Artikel von Michael Utsch. Er macht deutlich, dass die spirituellen Angebote, egal ob sie sich einer religiösen Tradition zuordnen oder einen eigenständigen neuen Weg propagieren, einer Qualitätskontrolle bedürfen. Mit Weisheit und Transzendenz im Licht der Wissenschaft befassen sich die nächsten beiden Artikel. Ulla Pfluger-Heist nähert sich über die Chaos-Forschung und Entwicklungspsychologie einer Phänomenologie der Weisheit und zeigt die Grenzen eines ausschließlich rationalen Modells auf, wie es beispielsweise in der Weisheitsforschung des Berliner Max-Planck-Instituts von Baltes und Staudinger vertreten wird. Ein Fallbeispiel ihrer Praxis veranschaulicht, wie Weisheit als ein innewohnendes Potenzial des Menschseins durch Psychotherapie freigelegt werden kann. Mit einer empirischen Studie zum von Wilfried Belschner entwickelten „TranszendenzTraining“ will Cornelius von Collande das Konzept der Transzendenz entmystifizieren und in ein psychologisches Kompetenz-Modell transferieren. Ihm gelingt der Nachweis einer empirisch erfassbaren Steuerungskompetenz im Navigieren zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen. Der abschließende Beitrag – als krönender Abschluss – gebührt dem Psychosynthese-Trainer Thomas Yeomans. Er veranschaulicht und versinnlicht die Tiefe der Mystik und Essenz des Transpersonalen auf eine jedem Menschen zugängliche Weise, nämlich auf dem Weg der Schönheit. Unsere Zwischentexte hat Christiane Liptak aus der Ausstellung: Mystik – Die Sehnsucht nach dem Absoluten, die in Zürich vom 23. September 2011 bis zum 15. Januar 2012 zu sehen war, mitgebracht. Von ihr stammt auch das Foto „Licht auf dem Wasser“ (S. 87), aufgenommen am Bodensee.
Viele Inspirationen, besinnliche und transzendente Erfahrungen wünschen
Ulla Pfluger-Heist Harald Piron

Veröffentlicht
2012-07-17